Die Romanik und Gotik
Die vergessene Kapelle von Magdeburg

Wir schreiben das Jahr 1999. Archäologische Grabungen auf dem Gelände der heutigen Nord/LB zwischen dem Breiten Weg und Domplatz in Magdeburg. Bereits in der Vorbereitungsphase versprechen die Grabungen spannend zu werden. Befinden wir uns hier in unmittelbarer Nähe fränkischer und ottonischer Befestigungsreste und späteren Kerngebietes des sakralen Magadoburgs. Dem Teil, der Wunsche Otto des Großen nach, als eine nova romanum erblühen sollte.
Eine kühne Idee, die bereits zu Lebzeiten unseres Kaisers in erstaunlicher Schnelligkeit Wirklichkeit zu werden schien. Doch wie das so ist, mit dem Wechsel von Herrschern wachsen neue Visionen und die alten zerfließen im Nebel der Zeiten.

Aus Ottos Traum wird, wie wir wissen nichts. Dennoch entwickelt sich das mittelalterliche Magdeburg zu einem einflussreichen Erzbischofsitz. Sichtbar wird dies in der Fülle von Klöstern und sakralen Prachtbauten, die den damaligen Besucher Magdeburgs beeindruckt haben wird.

Unter dem Grabungszelt vermessen Archäologen die ersten freigelegten Funde. Mittelalterliche Pflasterungen und eine Fülle neuzeitlicher Fundamentreste. Doch inmitten der Ziegelsteinwände einstiger Keller bietet sich dem Betrachter das seltsame Bild, im Zickzackverband Aufgeschichteter Steine. Opus spicatum, nannten das die Römer.

Und im Mittelalter nannten es lombardische Bauleute immer noch so.
Haben die, als die besten ihres Faches zu jener Zeit, in Magdeburg gewirkt? Wer sonst hätte zu dieser Zeit ein derart, wie wir noch sehen werden, kompliziertes Gebäude bauen können. Denn deutlich zeigt sich der bauliche Grundkörper: ein Quadrat mit runden Ausbuchtungen an seinen Kanten. Fundamentrest einerVierkonchenanlage wie wir sie von byzantinischen Bauten kennen. Kurz, wir haben es hier mit den baulichen Resten eines Zentralbaues, einer Kapelle, zu tun.

Bevor es weiter geht sollten Bücher gelesen werden. Gibt es in alten Schriften Hinweise auf einen solchen Bau? Nun, von dem Wenigen, was uns die Wirren des Dreißigjährigen Krieges erhalten haben, wird von Besitzungen der Dompropstei gesprochen. Die erstreckten sichvon der ehemaligen Staatsbank bis zur einstigen Nikolaikirche, entlang des Breiten Weges, wo sich heute die Hundertwasserzitadelle zeigt. Dort war der Stellvertreter des Erzbischofs, der Propst zu Hause. Ein mächtiger Mann. Mächtig genug, um eine derartige Kapelle bauen zu lassen.


Das Können für einen derartig komplizierten Bau dürften zu staufischer Zeiten nur die genannten lombardischen Baufachleute besessen haben, wie gesagt die besten -und teuersten- des mittelalterlich, römisch-katholischen Abendlandes.
Ob sie als Haus- und Hofkapelle, quasi zu privaten Zwecken oder als Baptisterium zur Bekehrung der slawischen, ins deutsche Reich eingemeindeten, neuen Landsleute gedient hat liegt, wirdsicher niemals mehr herauszufinden sein. Aus dem Fundament ist jedenfalls nichts derartiges zu ersehen.

Baptisterium in Frejus (Südfrankreich)

Auf Jeden Fall ist eine in früher Zeit zur Dompropstei gehörenden Kapelle überliefert. Unsere Dompröpste werden, wenn die Informationen denn stimmen, nicht lange etwas von ihrer Kapelle gehabt haben. Denn der schwere Stadtbrand 1207 dürfte sie vernichtet haben. Erst 150 Jahre später wird wieder, dieses Mal nachweislich, eine Kapelle zu Ehren der Heiligen Madelbertha und der Elisabeth gebaut. Es war den Herren also wichtig genug, eine Kapelle zu besitzen. - Wie dem auch sei: es ist nicht viel, was wir erfahren haben.

Ein wenig Architektur-Theorie.
Bei unserem ergrabenem Grundriss handelt es sich, so stellten wir fest, um die Vierkonchenanlage eines Zentralbaues. Ein Zentralbau ist ein Baukörper, dessen Raumteile auf eine senkrechte Mittelachse bezogen sind, die durch eine zentrische Grundrissform gegeben ist. Die Grundrissform ist quadratisch und zwei Diagonalen bilden den Schnittpunkt für die Mittelachse. Die vier Konchen an den Quadratseiten verstärken das Ganze zu einem griechischen Kreuz. Als Konche wird die Kuppelschale einer Apsis bezeichnet. Eine Apsis ist geometrisch gesehen ein längs geteilter senkrechter Zylinder, der oben von einer viertel Kugel überdacht wird. Man findet sie zumeist an den Ostseiten romanischer Kirchen.

Was nutzten uns nun diese Kenntnisse? Was nutzt uns ein Fundament, von dessen ehedem aufstrebendem Mauerwerk wir keine Ahnung haben. Welcher Mut treibt uns, einen Sakralbau aus dem 12. Jahrhundert virtuell nachzubilden. Nun, es ist der Drang, Licht hinter die baulichen Besonderheiten dieses Bautyps zu bringen. Der Wunsch auch, dem an Geschichte und Architektur interessierten Laien die Zusammenhänge sakraler mittelalterlicher Baukunst nahe zu bringen. Und schließlich sind es die baulichen Ähnlichkeiten mit anderen uns bekannten Kapellen, die eine Rekonstruktion rechtfertigen. Besonders das Baptisterium Mariano Comense und die Allerheiligenkapelle von Regensburg. Besonders deren Grundriss besitzt auffallend ähnlich Maße, ja sie sind beinahe deckungsgleich. Und diese Bauweise trägt deutliche Hinweise auf die Baukunst Oberitaliens.

Düsteres, ungebildetes Mittelalter, mag mancher denken. Nein, diese Zeit war keineswegs dunkel. Spätestens beim näheren Betrachten ihrer Architektur wird uns das deutlich werden. Heute werden solche ungewöhnliche Bauten wie das Hundertwasserhaus in Magdeburg mit Hilfe von CAD-Programmen am Computer konstruiert und später mittels Betonpumpen hochgezogen. Unseren Baufachleuten im Mittelalter dagegen standen nicht einmal Bauzeichnungen oder statische Berechnungen zur Verfügung. Bestenfalls Musterbücher, in denen die wichtigsten Details aufgezeigt und gezeichnet waren. Alles andere war das Wissen von Generationen, das immer wieder weiter gegeben wurde. Vieles seit der Römerzeit.

Ja, den guten alten Römern verdanken wir letztlich diese mittelalterliche Bauweise. Darum sprechen wir von der romanischen Architektur oder kurz von der Romanik. Und die war, wie wir noch sehen werden, alles andere als primitiv. Hinter jedem Maß, jeder Zahl, jeder Anzahl von Bauelementen verbirgt sich ein Zusammenhang, der von der tiefen Religiosität des Mittelalters zeugt. Besonders die romanische Bauweise beruht auf geometrischen Regeln und arithmetischen Konstruktionen, die uns nicht nur eine symbolische Bauidee, sondern auch eine Vorstellung von der Ordnung des Universums zeigen.



Wie sah nun unser Bauwerk, diese Kapelle aus?
Aus dem Grundriss ersehen wir die Form eines quadratischen Raumes. Dessen Seitenkanten sind von vier kurzarmigen Tonnengewölben durchbrochen, an die sich jeweils eines Apsis anschließt. Daraus ergibt sich die Form eines griechischen Kreuzes. Die Ausrichtung des Fundamentes liegt in west-östlicher Richtung, der Grundausrichtung sakraler Bauwerke. Über dem Quadrat des Innenraumes ragt ein Oktogon in die Höhe. An dessen Seitenwänden fällt durch acht Rundbogenfenster das Licht. Der Lichteinfall wird durch Fensterschrägen verstärkt.
Dieser Bauteil, der Tambour, bewirkt eine, besonders für die Menschen des Mittelalters, wahre Lichtflut. Oben findet der Raum in einer Kuppel seinen Abschluss. Und vielleicht hat sich hier, wie in der Allerheiligenkapelle zu Regensburg, das Bildnis des alles überragenden Pantokrators, des Weltenherrschers befunden. Flankiert von acht Engeln.

Ein wenig sehr hypothetisch wird mancher sagen. Das alles soll so ein Grundriss hergeben? Nun, wir kennen genügend Vierkonchenanlagen, um zu wissen, in welcher Weise deren Mauern nach oben streben. So wissen wir auch, wie sich der Übergang vom Quader zum Oktaeder vollzieht. Und da wird es kompliziert: diesen Part übernehmen sogenannte Trompen. Für diesen Begriff stehen viele Synonyme: Trichtergewölbe, Trichternische, Gewölbezwickel. Er hat die Form eines Hohlkegelteils, dessen Öffnung nach unten weist. Anders ausgedrückt, eine Trompe könnte man als den Rest einer Kuppel ansehen, der nur noch an den vier Quaderecken übrig geblieben ist.

Sind wir nun schlauer als vorher? Wie gesagt, sehr kompliziert. Aber unsere lombardischen Fachleute konnten das. Und das im düsteren Mittelalter. Würde das heute jemand ohne Betonpumpe und Taschenrechner fertig bringen?

Unsere Kapelle wird der Einfachheit halber mit dem Gestein aus den nahen Grauwacke-Steinbrüchen aufgebaut worden sein. Die Außenfassade aus unbehauenen Steinen könnte mit einer Putzschlemme verputzt gewesen sein. Grauwacke ist in unseren Breiten ein sehr festes Gestein, dass eine lange Haltbarkeit auch ohne Putz garantiert. Unverputzte Innenwände dagegen wären die für das Mittelalter typische Wandbemalungen nicht möglich. Außen schmücken Rundbogenfriese die Fassade.

Lisenen und Rundbogenfriese

Warum der ganze Aufwand, mag man sich heute fragen.
Um die Bauweise des Mittelalters zu verstehen, muss man sich in die Denkweise der damaligen Menschen hineinversetzen. Selbst Fürsten konnten oftmals weder Schreiben noch Lesen, so ist die Wandausmalung im Inneren der Sakralbauten verständlich. Sie war weniger Schmuck als bildliches Mittel der Übermittlung biblischer Texte. Besonders die Apokalypse war ein allgegenwärtiges Thema. Die romanische Kapelle von Magdeburg dürfen wir uns wie alle mittelalterlichen Sakralbauten ebenfalls bemalt vorstellen.

Der quadratische Hauptraum unserer Kapelle, zusammen mit seinen kreuzförmigen, tonnengewölbten Armen und dem hohen achteckigen Tambour dessen Lichtfülle, die sich von dort den Raum ergießt, sollte den Eindruck des Himmlischen Jerusalems vermitteln. Dieser Anspruch ist der rote Faden für die sakrale Baukunst vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein.

Und immer wieder ist es die Achtzahl, die uns im Mittelalter begegnet. Mehrere symbolhafte Bedeutungen führen zu dieser Zahl. So ist Christus am achten Tag auferstanden und am achten Tag nach Ostern seinen Jüngern erschienen. Der achte Tag ist nach den sieben Tagen der Tag des Gerichtes, der ewigen Ruhe und des ewigen Lebens.

Unsere Rekonstruktion ist nur der Versuch, ein wenig Licht hinter den Grabungsbefund des Magdeburger Kapellen-Grundrisses zu bringen. Diese Kapelle könnte so ausgesehen haben. Mehr nicht. Wer mehr wissen will, sollte nach Regensburg fahren und sich die Allerheiligenkapelle ansehen. Er wird vieles dort wiederfinden, was im vorliegendem 3D-Modell übernommen wurde. Eines kann dieses Modell freilich nicht: Die einmaligen, uns erhalten gebliebenen Wandmalereien der Regensburger Kapelle kopieren. So weit kann die Theorie nicht gehen. Denn wie gesagt, wir wissen nichts über die Beweggründe die zum Bau der Magdeburger Kapelle führten. Nichts über das sakrale Programm, das sich in deren Wandmalereien niedergeschlagen hätte.

Denn die Existenz der romanischen Kapelle von Magdeburg ist von der Zeit stiefmütterlich behandelt worden: Sie ist eines von Magdeburgs vielen vergessenen Bauwerken.

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