Der Zauber von "Voices of Light"

In Zeiten musikalischer Massenware ist es schon etwas Besonderes, eine CD zu entdecken, deren Zauber man sogleich nach den ersten Takten erliegt. Und der nach mehrmaligen Hören selbst auferlegte Zwang, sparsam mit dieser Musik umzugehen, um ihre Wirkung nicht zu verdorren zu lassen, ist unnötig. Ihre Kraft nimmt auch nach mehrmaligen Hören nicht ab.

Eine solche magische Scheibe ist "Voices of Light". Nun mag das alles kein Wunder sein, schließlich entstammt sie dem für besondere Qualität bürgenden Sony-Repertoire. Der keinen geringeren Klangkörper, als die Netherlands Radio Philharmonie unter der Leitung Steven Mercurios zu der Aufnahme verpflichtet hat. Zusammen mit dem Netherlands Radio Choir, den „Anonymous 4“ sowie Susan Narucki (Sopran), Corrie Pronk (Alt), Frank Hameleers (Tenor) und Henk van Heijnsbergen (Bassbariton). Die ersten Klänge scheinen zunächst in das heute ein wenig modern gewordene mittelalterliche, greogorianisch gefärbte Muster zu passen.

Aber es ist mehr. Es ist eine komplexe, moderne cross-over-Komposition, ein Oratorium, das sich an die vielstimmigen Gesänge des XV. Jahrhunderts anlehnt. In dem sich Motetten mit kraftvollen Chorgesängen abwechseln, Glockengeläut mit Sologesängen, symphonische Orchestermusik mit zarten Gambenklängen.

Der Komponist ist der im Jahre 1952 geborene US-Amerikaner Richard Einhorn. Über einen Stummfilm ließ er sich zu dieser Komposition inspirieren. "Passion der Jungfrau von Orléans". Ein leider weitgehend unbekannt gebliebenes Filmwerk des Regisseurs Dreyer aus dem Jahre 1928. Unter dem Eindruck, so Einhorn, eines der größten Kunstwerke gesehen zu haben, macht er sich 1988 daran und komponiert ein Oratorium. Sechs Jahre später wird es uraufgeführt.

Die außergewöhnlichen Umstände ihrer Entstehung und das Libretto sind in dem Begleitheft der CD finden. Bevor Einhorn mit der Komposition des Werkes beginnt, bereist er die drei wichtigsten Stationen Jeanne d´Arcs. Domremy, ihren Geburtsort, die Stadt Orléans, die durch sie von den Engländern befreit wurde, schließlich Rouen, die Stätte ihrer Hinrichtung. Er studiert ihre erhalten geblieben Briefe und Anklageschriften sowie biblische Texte, historische Schriften von Dichterinnen und Mystikerinnen des Mittelalters, deren herausragendsten Vertreterinnen Hildegard von Bingen und Ditié de Jehanne d´Arc sind.

Aus den daraus entnommenen Textsplittern webt Einhorn ein Libretto. Es beschreibt den Leidensweg Jeanne d´Arcs aus ihrer eigenen Sicht sowie aus femininem und aus dem frauenfeindlich maskulinen Blickwinkel der damaligen Zeit. So entsteht mehr als fünfhundert Jahre nach ihrem Tod ein Werk, das ihrer Persönlichkeit, gleichzeitig aber der Kraft einer Frau gewidmet ist, die gesellschaftliche, patriarchalisch geprägte Zwänge überwindet.
Zusammen mit dem Libretto erhält dieses Werk eine heute leider so selten gewordene Mystik. Wer sich diese CD kauft, sollte es unbedingt lesen. Am besten aber in Verbindung mit der Musik. Dann verschmelzen Worte und Musik zu einer waren Symbiose, deren spiritueller Zauber den Zuhörer für siebzig Minuten den Alltag entfliehen lässt.

Bernd Werner, 29. Januar 1999